Erfahrungsbericht eines Paten
Christoph Kühnhanss erzählt von seiner Patenschaft bei Consciente
Wenn einer in der Schweiz geboren ist, hier ganz gut gelebt hat und schon ein bisschen in die Jahre gekommen ist, dann hat er sich meistens in einem weichen Bett aus Bequemlichkeit und Hedonismus eingerichtet und blickt mit einer Mischung aus Melancholie, Betroffenheit und Zynismus in die Welt, froh darüber, es so gut getroffen zu haben. Natürlich ist man informiert, liest das Bücher, Zeitungen und ab und an das Feuilleton, geht ins Museum, man schimpft über Putin, schüttelt den Kopf über Trump, diskutiert die Weltlage und ist betroffen von den Panama Papers, dem Klimawandel, der Armut, der Ungleichheit, dem Syrienkrieg und dem untergehenden Regenwald.
Man fährt trotzdem ein Auto (geht ja nicht anders, aber wenigstens ein umweltschonendes), man gönnt sich ab und an einen Städteflug (mit CO2-Kompensation, klar!), fliegt auch mal weit weg (höchstens ein mal im Jahr und wenn, dann an eine exotische Destinationen, wo alles noch echt ist!), und man geht gerne ins Sushi-Lokal (die Meere sind eh bald leer) oder gönnt sich ein Rindsfilet (natürlich Schweizer Fleisch) mit spanischem Wein (ist ja nicht allzu weit weg).
In etwa dieser Verfassung habe ich mich an der Uni Bern eingeschrieben, mit 58 Jahren, um Soziologie zu studieren. Wozu? Für gar nichts. Zweckfrei, an sich so schön, ein hedonistischer Egotrip. Cool! Wahrscheinlich ging es um mehr Munition für diese zynisch-distanzierte Weltsicht, die uns von jeglichem Handeln entlastet. Doch dann kam alles anders!
Ich habe Tina getroffen, Soziologie-Studentin, aber gar nicht wie ich. Sie hat Werbung gemacht für eine junge Frau in El Salvador (wo ist das noch gleich?), die studieren will und nicht kann. Wie bitte? Nicht kann? Ja, kein Geld. Tina hat mir mit Riesen-Begeisterung vom CONSCIENTE erzählt, mir Fotos gezeigt vom fernen Salvador und von dieser jungen Frau, die mit ihrer Mutter in einer armseligen Wellblechhütte wohnt – und nach nicht ganz fünf Minuten war ich Pate von Melissa.
Melissa – eine blitzgescheite, mittlerweile 19-jährige Salvadorianerin, die damals nichts sehnlicher wünschte, als Mathematik zu studieren. Das tut sie seit einem Jahr! Und seither stehe ich in regem Kontakt mit ihr, wir schreiben E-Mails und dann und wann kommt aus El Salvador ein selbst gebasteltes Geschänkli in die Schweiz, das mich meist zu Tränen rührt. Ich schicke dafür päckliweise Schweizer Schoggi über den Atlantik. Melissa ist unglaublich herzig, sie ist unglaublich dankbar. Ich konnte ihr kaum angewöhnen, mich zu duzen (das tut man offenbar nicht mit einer „Respekts”-Personen. Respektsperson?). Sie erzählt mir etwa von der „flor de izote”, einer essbaren Riesenblüte, die in Morazán wächst, oder von einer CONSCIENTE-Exkursion auf den höchsten Vulkan des Landes oder von den Nachhilfestunden für Maturanden, die sie im Rahmen des CONSCIENTE-Programms für die Uni-Aufnahmeprüfung gibt – und von ihrer Mutter, ohne die sie sich das Leben nicht vorstellen könne!
Und siehe da, mein Studium – als selbstgefälliger Egotrip geplant – hat eine ganz neue Dimension bekommen. Mittlerweile habe ich die anderen Mitkämpferinnen und Mitkämpfer von CONSCIENTE kennengelernt, Malin, Livia oder auch Lilo, der uns aus Salvador besuchen kam. Alle sprühen vor Energie, Tatendrang und kreativen Ideen!
Eine davon ist folgende: Die Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen, die CONSCIENTE mit so großem Engagement vorantreibt. Im Rahmen meiner Masterarbeit werden wir eine empirische Studie über die Wirkungskraft der CONSCIENTE—Workshops durchführen und vielleicht sogar ein kleines soziologisches Institut in El Salvador gründen, das sogenannte action research betreiben soll: Angewandte Soziologie als Begleitungsmaßnahme von praktischen Entwicklungsprojekten! In einer breit angelegten Studie werden wir etwa 4000 Schüler in 200 Gymnasialschulklassen von Morazán befragen. Wir erwarten Aufschluss darüber, wie die intensiven Bildungs-Workshops von CONSCIENTE, etwa zu Gender- oder Umweltproblemen, funktionieren und welche Effekte sie langfristig haben. Wir werden damit wissenschaftlich messen und belegen, ob und in welchem Ausmaß die Bildungsmaßnahmen Wirkung zeigen, und wir werden auf der Basis dieser Erkenntnisse die CONSCIENTE-Projekte in feedback-Prozessen laufend optimieren können. Das genau ist action research: Angewandte Wissenschaft in der Praxis transformativer Prozesse. Denn für den Erfolg von Entwicklungsmaßnahmen zählt nicht bloß das gute Herz, sondern auch das Wissen, was genau effizient und hilfreich ist.
Melissa hat mich eingeladen, nach El Salvador zu kommen. Sie und ihre Familie werde mich „con brazos abiertos” – mit offenen Armen – empfangen. Ihre Mama will „flor de izote” ausbacken und alle möglichen Sachen, die ich bestimmt nicht kenne, und sie werde mir alles zeigen und geben, was im Bereich ihrer Kraft und Möglichkeiten liege. – Ich muss also los, das Flugticket kaufen…
Autor: Christoph Kühnhanss ist 58, ehemaliger Unternehmer und studiert aktuell Soziologie in Bern. Seit Januar 2016 ist er ausserdem Pate von Melissa