Start eines vielversprechenden Bildungsprojekts
Von Martina Jakob
Bern/Morazán: Bildung in El Salvador besteht meist aus monotonem Abschreiben und Auswendiglernen. Es überrascht daher nicht, dass die Schülerinnen und Schüler nur wenig Motivation haben und kaum etwas lernen. Das neue Projekt „CAL-IMPACT“ von Consciente will zeigen, dass junge Lehrpersonen in El Salvador – mit geeigneten Hilfsmitteln und guter Vorbereitung und Begleitung – durchaus in der Lage sind, Kinder fürs Lernen zu begeistern. Wie gut uns das gelingt, werden wir mithilfe einer wissenschaftlichen Evaluationsstudie der Universität Bern herausfinden.
Als die Kinder der dritten Klasse der Schule „Caserio el Chupadero“ zum ersten Mal am Computer arbeiten dürfen, sind sie vor Freude ganz nervös. Viele haben sich mehrmals die Hände gewaschen, um die Laptops ja nicht schmutzig zu machen. Die meisten Familien im abgelegenen Dorf leben in Armut – kaum jemand kann sich hier einen Computer leisten. „Das war ein unglaublicher Moment“, erzählt die Lehrerin Emperatriz. „Ein Kind begann in seiner Begeisterung sogar herumzuspringen. Und als es klingelte, wollte niemand nach Hause gehen. Könnt ihr euch diese Freude vorstellen, die man als Lehrperson empfindet, wenn man Kinder glücklich lachen sieht und merkt, dass man durch Bildung Leben verändern kann?“
Solche Szenen ereigneten sich in vielen der 120 Schulklassen im ganzen Departement Morazán, in denen am 16. April 2018 unser „Computer-Assisted Learning“-Projekt CAL-IMPACT startete. 2400 Kinder an 30 verschiedenen Grundschulen im ländlichen Nordosten von El Salvador werden im Verlauf dieses Jahres erstmals an zusätzlichem Mathematikunterricht teilnehmen, der auf partizipativen und innovativen pädagogischen Methoden beruht. Mithilfe einer Mathematik-Software können die Schülerinnen und Schüler an zwei Nachmittagen pro Woche ihrem Niveau entsprechende Lernvideos schauen und Übungen lösen. Die Zeit am Computer wird durch Gruppenarbeiten und Spiele ergänzt, damit auch das gemeinsame Lernen nicht zu kurz kommt. „So macht Mathematik Spass!“, erzählt die 5.-Klässlerin Natasha: „Es gibt Spiele und Computer und die Lehrerin nimmt sich Zeit, mir die Sachen zu erklären, die ich nicht verstehe. Das kenne ich aus anderen Schulstunden nicht.“
Viele Kinder haben zum ersten Mal einen Computer benutzt.
1200 vergeudete Stunden
Es ist kein Wunder, dass der Unterricht im CAL-Projekt für die Kinder ein unvergleichbares Erlebnis darstellt. Denn in El Salvador erschöpft sich der Unterricht normalerweise darin, dass die Kinder von der Tafel abstrakte Formeln in ihr Heft abschreiben und anschliessend alles auswendig lernen. So hat Lernen kaum etwas mit Verstehen, selber Denken, Entdecken zu tun – und schon gar nichts mit der Welt, in der die Kinder leben. Wenn niemandem klar ist, worum es eigentlich geht, bleibt entsprechend wenig in Erinnerung. Die Ergebnisse eines Mathematiktests, den wir mit 600 Primarschülerninnen und -schülern in Morazán durchgeführt haben, zeigt dies in erschreckender Deutlichkeit auf. So konnten etwa die 6.-Klässlerinnen nur ein Drittel der Fragen beantworten, die gemäss Lehrplan zum Stoff der 1.-3. Klassen gehören. Noch schlechter sieht es mit den Inhalten der höheren Stufen aus. Für geschätzte 1200 Schulstunden Mathematik, die ein Kind der 6. Klasse in seinem Leben besucht haben sollte, ist dies ein trauriges Ergebnis. Solche Defizite können auch im späteren Bildungsverlauf kaum mehr aufgeholt werden.
Noch besorgniserregender sind die Ergebnisse unseres unvorbereiteten Mathematiktests mit angehenden Lehrpersonen: Nur 40% konnten Brüche korrekt addieren, gerade mal 25% konnten Sekunden in Stunden umrechnen und noch weniger waren in der Lage, die Fläche eines Dreiecks zu bestimmen. Wer den Stoff selber nicht verstanden hat, kann ihn natürlich auch nicht weitervermitteln. Und wer selbst nie eine spannende Schulstunde miterlebt hat, kann sich keine Vorstellung davon machen, wie man den Unterricht interaktiv gestalten könnte. So reproduziert sich schlechte Bildung.
Eine Projektidee entsteht
Unser CAL-Projekt sucht einen Ausweg aus diesem Teufelskreis. Wir wollen zeigen, dass junge Leute in El Salvador mit geeigneten Hilfsmitteln und guter Vorbereitung und Begleitung durchaus in der Lage sind, Kinder fürs Lernen zu begeistern. Die Mathematik-Plattform „Khan Academy“ bietet dafür eine hervorragende Grundlage. Sie beinhaltet Lerneinheiten mit Videos und interaktiven Übungen zu allen Themen und Schwierigkeitsgraden, die es Kindern sowie Lehrpersonen ermöglichen, selbständig und in ihrem eigenen Tempo zu lernen. So kann jedes Kind seine individuellen Lücken aufarbeiten und Lehrpersonen haben mehr Zeit, um auf einzelne Schülerinnen und Schüler einzugehen.
Damit kein Kind vor dem Computer vereinsamt, beinhaltet das Unterrichtskonzept noch eine zweite Komponente: Mithilfe von Mathematik- und Konzentrationsspielen soll die Motivation und das gemeinsame Lernen mit einfachen Methoden gefördert werden. Nicht zuletzt soll das Projekt einen streng evidenzbasierten Ansatz verfolgen: Durch eine wissenschaftliche Untersuchung wollen wir herausfinden, ob unser Ansatz funktioniert und wie er sich am besten umsetzen lässt.
Mit dieser Vision haben wir im September 2017 damit begonnen, dieses Projekt Schritt für Schritt anzugehen. Im Verlauf des letzten Jahres sind zu unserer grossen Freude immer mehr Leute mit an Bord gelangt – von Schweizer Universitäts-Professoren über die DEZA bis hin zum Bildungsministerium von Morazán und einer engagierten Gruppe von salvadorianischen Lehrpersonen, IT-Verantwortlichen, Koordinatorinnen und Pädagogen. So haben wir gemeinsam ein Grossprojekt aufgegleist, welches das Leben unzähliger Menschen in El Salvador berühren wird und zugleich als wissenschaftliche Basis für unsere zukünftige Arbeit und jene anderer Institutionen in ganz Lateinamerika dienen soll.
Die Zeit am Computer wird durch Mathematik- und Gruppenspiele ergänzt.
Von der Lagerhalle in Bern bis ins salvadorianische Klassenzimmer
Vor dem erfolgreichen Projektstart musste jedoch ein langer und beschwerlicher Weg zurückgelegt werden. Dieser begann mit einer gross angelegten Computer-Sammelaktion. Nach Dutzenden von Anfragen an diverse Betriebe war das Wunder kurz vor Weihnachten vollbracht: In einer Lagerhalle in Bern wurden über 700 funktionstüchtige Computer und Laptops sorgfältig „gewiped“ und hochseetauglich verpackt. Am 5. Januar 2018 machten sich die fünf Tonnen IT-Material dann auf die lange Reise über den Atlantik. Auf der anderen Seite des Ozeans stiess unser Container dann unvermittelt auf ein kaum zu überwindendes Hindernis: den salvadorianischen Zoll. Es ist kaum zu fassen, wie viele Formulare, Bewilligungen und Gebühren man sich einfallen lassen kann, um die Einfuhr einer Spende zu erschweren. Später sollten wir erfahren, dass nicht einmal Amazon nach El Salvador liefert, weil dort der Zoll zu viel Zeit und Geld in Anspruch nehme und zu „lausigen Kundenerfahrungen“ führe. Nach vielen schlaflosen Nächten und drängenden Telefonaten und Briefen an Zollbehörde, Ministerien und an die Schweizer Botschaft gelang es uns Ende März endlich, unseren Container aus den Mühlen der salvadorianischen Bürokratie zu befreien und nach Morazán zu schicken, wo er mit viel Jubel und Erleichterung empfangen wurde. Nun konnte sich das lokale IT-Team endlich daran machen, die Computer aufzusetzen und auf die Schulen zu verteilen.
Nach einem beschwerlichen Weg erreicht unser Container am 25. März endlich Morazán.
Währenddessen leistete auch das salvadorianische Pädagogik-Team ganze Arbeit: 40 sorgfältig ausgewählte Lehrerinnen und Lehrer wurden während mehrerer Wochen auf die Arbeit im CAL-Projekt vorbereitet. Während dieses Ausbildungsprozesses wurden den angehenden Lehrpersonen nicht nur mathematische, technische und pädagogische Inhalte, sondern auch ein Gefühl von sozialer Verantwortung vermittelt. Es wurde aufgezeigt, dass Bildung auch ganz anders sein kann, und dass wir uns gemeinsam für ein anderes Lernen einsetzen können. Innerhalb kürzester Zeit haben die Lehrerinnen und Lehrer eine unglaubliche Motivation entwickelt und damit begonnen, auch über ihre regulären Arbeitszeiten hinaus bei der Ausgestaltung des Projekts mitzuarbeiten. CONSCIENTE-Lehrer Dany beschreibt das folgendermassen: „Nach weniger als einer Woche waren wir alle wie eine Familie geworden, wollten gemeinsam die Dinge verändern, wollten die Pfeiler der Brücke sein, die unsere Kinder zu einer besseren Zukunft führt – irgendwann zwischen Mathematik-, Informatik- und Pädagogikstunden, Fragen und Gelächter hat sich für uns alle etwas verändert“.
Im Ausbildungsprozess lernten die jungen Lehrerinnen und Lehrer ein anderes Verständnis von Bildung kennen.
Was funktioniert wirklich?
Motivierte Kinder, Eltern und Lehrpersonen sind ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, dass unser Ansatz funktionieren kann. Doch „wissen“ ist natürlich immer besser als „hoffen“. Aus diesem Grund haben wir in Zusammenarbeit mit der Universität Bern eine Evaluationsstudie entworfen, die es uns ermöglicht, genau zu messen, ob und wie stark die Kinder ihre Mathematikfähigkeiten aufgrund des Projekts verbessern. Die wissenschaftliche Studie ist als sogenanntes „Randomized Controlled Trial“ (RCT) konzipiert. In unserem Fall bedeutet dies, dass die verschiedenen Schulklassen per Zufall in vier Gruppen eingeteilt werden. Gruppe 1 erhält computerbasierten Mathematikunterricht mit einer Lehrperson, Gruppe 2 nimmt an zusätzlichen CAL-Lektionen mit einer technischen Aufsichtsperson teil, Gruppe 3 erhält Mathematikunterricht ohne Computer, und Gruppe 4 nimmt als Kontrollgruppe vorläufig noch nicht am Projekt teil. In allen Gruppen wird vor und nach der Durchführung des Pilot-Projekts eine Mathematik-Prüfung durchgeführt. Durch einen Vergleich zwischen den Leistungen in Kontroll- und Projektgruppen („Treatmentgruppen“) kann der kausale Effekt unseres Mathematikunterrichts geschätzt werden (mehr zum Design). Zudem werden wir auch wissen, welche der drei Projektversionen am effektivsten ist.
Mit diesem Evaluationsdesign hat CONSCIENTE den „Impact Evaluation Award 2017“ der DEZA und des Center for Development and Cooperation (NADEL) der ETH Zürich gewonnen. Nun sind wir gespannt, wie Ende Jahr die Ergebnisse ausfallen werden. Doch dazwischen erwartet uns noch Einiges an Arbeit.
Im Rahmen der Evaluationsstudie nehmen 200 Schulklassen an zwei Mathematiktests teil.
Ein Lichtblick für Morazán
Zum Glück ist dafür nicht nur auf unser salvadorianisches Team Verlass – auch auf die Unterstützung von Eltern und lokalen Autoritäten können wir zählen. Die Schulen haben das Projekt mit grosser Freude empfangen, einige Eltern helfen sogar bei der Zubereitung des Mittagessens vor dem Nachmittagsunterricht, und das Bildungsministerium (MINED) war von Anfang an ein ausgezeichneter Projektpartner. Für sie alle stellt das Projekt einen Lichtblick für Morazán und vielleicht sogar für ganz El Salvador dar. „In den letzten Tagen habe ich etwas Zentrales verstanden: dass Lernen nicht langweilig sein muss“, schildert der Lehrer Luis seine Erfahrungen. Dann fügt er hinzu: „Bildung ist das beste Werkzeug, um ein Land zu verändern, das in Probleme verwickelt ist. Und wenn es in unseren Händen liegt, einen Beitrag zu dieser Veränderung zu leisten – warum sollten wir es nicht tun? Heute beginnen wir mit dem Departement Morazán, aber die Vision geht darüber hinaus, denn unser ganzes Land braucht gleiche Chancen im Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung.“
Spendenaufruf
Wir sind dringend auf weitere Spenden angewiesen, um unser CAL-Projekt finanzieren zu können. Dank grosszügiger Computerspenden und Partnerschaften mit der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), dem Liechtensteinischen Entwicklungsdienst (LED) und der Burgergemeinde Bern konnte der grösste Teil der Kosten bereits abgedeckt werden. Noch fehlen uns aber die letzten 75‘000 CHF, um das erste Projektjahr erfolgreich bestreiten zu können.
«Wir sind nun Teil des Consciente-Teams von CAL-IMPACT, und es liegt in unseren Händen, das Projekt effektiv zu gestalten. Wir haben diese Hoffnung und Motivation, und ich weiss, dass viele andere Erfahrungen auf uns warten, von denen wir lernen werden. Doch ich bin sicher, dass wir – ebenso wie diejenigen, die dieses Projekt angerissen haben– stolz auf die guten Ergebnisse sein werden, denn wir haben unsere Anstrengungen in diese grosse Chance für die Kinder und Jugendlichen in El Salvador gesteckt!.»
«Ich wurde in eine dritte Klasse eingeteilt; die meisten Kinder sind acht oder neun Jahre alt. Als ich sie zum ersten Mal im Klassenzimmer mit ihrem Lehrer sah, haben sie mich – das muss ich zugeben – etwas eingeschüchtert: Sie sahen äusserst hyperaktiv aus! Als ich ins Klassenzimmer kam, wurde mir klar, dass ich Recht hatte – sie waren tatsächlich sehr lebhaft. Zuerst musste ich sie beruhigen, weil sie mich immer wieder fragten, wann sie die Computer endlich benutzen dürften. Sie wollten unbedingt mit den Computern lernen und baten mich ängstlich, sie bitte nicht aus dem Projekt zu nehmen. »
«Dieses Projekt ist sehr schön, wir werden viel dazulernen! Es macht Spass, mit den Computern zu lernen und zu entdecken. Das ist wirklich aufregend, denn es ist die einzige Schulstunde, in der Spiele gemacht werden. Und die Lehrerin, die dafür kommt, ist sehr nett. Sie ist neu und dank ihr werden wir neue Sachen lernen.»
«Mit der Durchführung dieses Projektes kommen viele Kinder in Kontakt mit einer neuen Welt, die ihnen viele Möglichkeiten eröffnet, ihr Wissen zu erweitern. Ich bin zuversichtlich, dass die Nutzung technologischer Ressourcen in der Bildung zur Entwicklung eines kritischen, reflektierenden, proaktiven und engagierten Bürgers beitragen wird, der die notwendigen sozialen Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesellschaft selbst herbeiführen kann.»