Das Mädchen und das Geschenk – Bericht von Tania, Freiwillige aus der Schweiz
Autorin: Tania Porto (aus der Schweiz), SCI Freiwillige bei Consciente El Salvador
Übersetzt von: Sales Hollinger
Stellt euch ein Mädchen vor, das ein Geschenk vor sich hat und es jeden Augenblick öffnen wird. Das Glück, die Ungewissheit und die Neugier, die sie empfindet – das ist es, was auch ich empfand, als ich allein am Flughafen vor einer Anzeigetafel stand, auf der stand: Destination El Salvador.
Umarmungen…
Es war das erste Mal, dass ich „el charco“ überquerte; das erste Mal, dass ich allein reiste und das erste Mal, dass ich in ein anderes soziales Umfeld eintauchte. Aber die Angst vor all diesen „ersten Malen“ verschwand mit jeder Umarmung, die mir die Menschen gaben, denen ich auf dem Weg begegnete. Wenn sich die Menschen in El Salvador vorstellen, dann umarmen sie dich so herzlich, dass du dich voll und ganz willkommen fühlst – es ist wunderschön.
Während meiner ersten Woche bei Consciente erhielt ich unzählige solcher Umarmungen, die mich jeden Tag mehr wie zu Hause fühlen liessen. Im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass Consciente nicht nur ein Büro ist – es ist ein Zuhause für seine Mitarbeitenden, die sich mit Körper und Seele für sozialen Wandel einsetzen, sowie für all jene jungen Menschen, die einen sicheren Ort gefunden haben, an dem sie Freude, Ängste und Träume teilen können. Wie in jedem Haus wohnte auch bei Consciente eine Familie, die mich von Beginn weg mit Liebe und Vertrauen aufnahm.
Erschaffen…
Ich hatte mir bereits vor der Reise einige Gedanken gemacht, doch die Realität lehrte mich: Was wir hier für notwendig halten, ist nicht zwingend etwas, das sie dort ebenfalls brauchen. Deshalb änderte ich meine Pläne und verbrachte die ersten Wochen damit, die Jugendlichen bei ihren Aktivitäten zu begleiten, zu beobachten und mit ihnen zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich auch den Einflusses, den Consciente auf die Jugendlichen hatte: das kritische Bewusstsein gegenüber patriarchalen Strukturen, die Sensibilität für die Umwelt oder das Engagement in der Gemeindearbeit. Das sind Dinge, die sich nicht messen und in einem Bericht festhalten lassen, aber sie sind da und haben enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Was mir an Consciente am meisten gefällt, ist, dass sich das Handeln stets an Nachhaltigkeit orientiert: Es wird Autonomie geschaffen, nicht Abhängigkeit. So hinterlassen die Projekte bleibende Spuren, wie ich am eigenen Leib erfahren durfte.
Es wurde bald klar, dass ich Teil des Programms für Nachhaltigkeitsbildung sein wollte. Dabei handelt es sich um mehr als ein blosses Bildungsprogramm – es ist eine Lebensweise des Hinterfragens, der Reflexion sowie des Schaffens von Werkzeugen zur kritischen Analyse und anschliessenden Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Nachdem wir uns mit den Jugendlichen darüber ausgetauscht hatten, organisierte ich mit einem Kollegen einen intensiven Workshop zum Thema „Strategien der Organisation“. Ziel war es, den Jugendlichen des „Red de Educadores Populares“ – eines Netzwerks von jungen Freiwilligen –Werkzeuge an die Hand zu geben, damit sie effektiver arbeiten und durch ihre Bildungsarbeit einen nachhaltigeren Einfluss auf die Gemeinschaft erzielen können. Im Zentrum standen dabei eine strategische Planung, Organisations-prozesse sowie Methoden der Kommunikation und der Persönlichkeits-entwicklung.
Diese jungen Freiwilligen sind bewundernswert: Ihre Fähigkeit, Wissen zu schaffen und zu teilen, ist erstaunlich. Sie sind wie Schwämme, die Informationen aufsaugen, aber gleichzeitig nach ihren Bedürfnissen und Interessen gestalten – und genau das ist es, was dieses Programm so schön macht: dass es diesen unverzichtbaren Prozess des autonomen Wachstums ermöglicht. Die Selbstständigkeit, mit der diese Jugendlichen sich die nötigen Werkzeuge aneigneten und sie kreativ einsetzten, war während der kurzen Zeit der Zusammenarbeit deutlich spürbar.
Frauensache…
Die Realität einer Frau in El Salvador ist nicht dieselbe wie jene eines Mannes. Meine männlichen Kollegen hatten keine Angst, alleine mit dem Bus zu reisen. Ebensowenig mussten sie darüber nachdenken, wie „frau“ sich kleidet, um einen Ausflug in ländlichere und konservativere Gegenden zu machen; was „frau“ trägt, wenn sie an den Strand gehen möchte; wie sie sich gegenüber unangebrachten „Komplimenten“ auf der Strasse verhält; ob „frau“ ein Bier in der Öffentlichkeit trinken soll oder nicht; usw.
Abgesehen davon, dass ich eine Frau bin, sind meine Haare blond gefärbt (oder „weiss“, wie man in El Salvador sagt) und ich bin tätowiert. Manchmal fand ich mich in unbequemen Situationen wieder, in denen ich gerne unsichtbar gewesen wäre. Bei alltäglichen Dingen wie dem Anstehen im Supermarkt stehst du ständig im Mittelpunkt, denn du bist nun mal „anders“. Schliesslich musste ich lernen, diese Situationen einzuordnen und mich den patriarchalischen Strukturen zu stellen, die mich unter Druck setzten.
Doch erfährt eine Europäerin diese Ungleichheit noch immer anders als eine Salvadorianerin. Als Feministin habe ich erkannt, dass unsere „europäischen Bewegungen“ manchmal andere Arten von Kämpfen schlicht ignorieren, da wir sie bereits für ausgefochten halten. Die Diskussion des Feminismus mit meinen salvadorianischen Kolleginnen war jedenfalls sehr bereichernd.
Am 8. März, dem internationaler Frauentag, hatte ich die Gelegenheit, einen Ort namens „Ciudad Mujer“ (Frauenstadt) zu besuchen. Dort wird ein Programm zur ganzheitlichen Betreuung (medizinische Versorgung, wirtschaftliche Selbstständigkeit, etc.) von Frauen entwickelt, die an geschlechtsspezifischer Gewalt leiden. An jenem Tag konnte ich diesen Raum mit den Frauen teilen und bekam so die Gelegenheit, einen Einblick in ihre Erfahrungen zu erhalten. Die Geschichten, die ich hörte, machten mich fassungslos angesichts der Ängste und der Ungerechtigkeiten, die diesen Frauen widerfahren sind. Aber sie hinterliessen auch viel Bewunderung für ihre Widerstandsfähigkeit und Ausdauer.
Diese Erfahrungen stärkten mein Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Bildungsprogrammen wie demjenigen zur „Educación Popular“ von Consciente.
Farben…
El Salvador ist in kostbare Farben gehüllt. Die Landschaften sind bildschön und die Aussichtspunkte rauben dir für Sekunden den Atem. Die Stimmungen El Salvadors sind einzigartig – seine Vulkane, seine Musik und seine Menschen. Es faszinierte mich, mit einem Fresco (lokales Getränk auf Fruchtbasis) in der Hand durch den Markt zu schlendern und die Verkäufer von Kunsthandwerk zu beobachten oder die Frauen, die Tortillas und Puppen vor ihren Häusern zubereiten. Oder mit der Obsthändlerin zu sprechen und der Frau zuhören, die den schweren Eimer Gemüse auf dem Kopf trägt. Manchmal wurde diese Stimmung durch ein Militärfahrzeug unterbrochen, in dem bewaffnete Männer mit verhüllten Gesichtern Kontrollen durchführten, sogar vor Kindergärten. Manchmal packte ein junges Mädchen plötzlich meine Hand und bettelte mit Tränen in den Augen. Zu anderen Zeiten sah ich eine ältere Frau, die, um irgendwie über die Runden zu kommen, Taschen verkaufte, die sie auf dem Boden gefunden hatte. Es war nicht immer einfach, mit dem Kontrast zwischen der Schönheit und Einzigartigkeit dieses Landes und seiner schwierigen sozialen Realität umzugehen.
Die Farben El Salvadors werden von seiner kriegerischen Vergangenheit überschattet, die sich in den Gesichtern der Menschen widerspiegelt und in ihrer Art, nach einem besseren Leben zu streben. Manchmal war ich so eingenommen von der Schönheit dieses Landes, dass ich seine Geschichte vergass. Und ich glaube, dass ich dort ein Werkzeug gefunden habe, um gemeinsam zu lernen: Während ich sie an die Schönheit ihres Landes erinnerte, die für sie alltäglich und damit unauffällig geworden war, unterrichteten sie mich über die historischen Ereignisse El Salvadors – eines Landes, dessen Geschichte ich nicht kannte, an der ich als Europäerin wegen unserer kolonialen Vergangenheit aber ebenfalls in einem gewissen Sinne teilhabe.
Reflexionen…
In einer der Schulen, die ich besuchte, gab es ein Schild mit der Aufschrift: „Die Menschen sind nicht arm wegen ihrer Art zu leben, sondern wegen ihrer Art zu denken.“ El Salvador verfügt über einen grossen Reichtum an materiellen und personellen Ressourcen, doch das Problem sind die Ausbeutung und die Machtstrukturen, die in diesem Land bestehen. Und unter Machtstrukturen verstehe ich sowohl diejenigen, deren Ursprung in den gesellschaftlichen Entwicklungen des Landes selber zu suchen ist als auch jene, die wir im Zusammenhang mit unserer kolonialen Vergangenheit geschaffen haben.
Meine Position innerhalb dieser Machtstruktur war der grösste Kampf, den ich während meines Aufenthalts zu bestreiten hatte, sowohl persönlich als auch beruflich: Welche Rolle spiele ich in dieser Gesellschaft? Weshalb kommen wir von aussen „zu Hilfe“? Wie positioniere ich mich in Bezug auf die sozialen Situationen, die ich beobachte?
Wir führten nächtelange Diskussionen, in denen wir über weisse Vorherrschaft, «Malinchismo», Kolonialismus und dergleichen sprachen. Das waren äusserst wichtige Debatten, und ich denke, dass jede/r Freiwillige über diese Dinge nachdenken sollte, bevor sie oder er hierher kommt. Der Wandel manifestiert sich auch in meiner eigenen Sprache. So sage ich nicht mehr, dass ich freiwillig „helfe“ – vielmehr komme ich, um einen kulturellen Austausch durchzuführen. Dabei sind wir nicht etwa Trägerinnen des Wissens, sondern – wie es die Educación Popular lehrt – Teilnehmende eines egalitären Prozesses, in dem Wissen geschaffen und geteilt wird.
Das Mädchen und das Geschenk…
Das Mädchen, das ich euch am Anfang vorgestellt hatte, hat nun, nach ihrer Rückkehr, ihr Geschenk geöffnet und in ihm eine Welt namens El Salvador gefunden – voller Liebe, Freundschaft, Kampf, Erkenntnisse, Schönheit und Bewegung. Werte, die mein Sein und meinen zukünftigen Weg geprägt haben bzw. prägen werden. Ich bin dankbar für das Vertrauen und die Lehren, die die Menschen von Consciente in El Salvador sowie in der Schweiz mit mir geteilt haben und natürlich dafür, dass sie mir die Freiheit gegeben haben, mich auf diesem Weg voller Herausforderungen selber zu entfalten. Ich bin all jenen dankbar, die sich die Zeit genommen haben, mir die Schönheit des Landes, seine Geschichte, seine Tränen, seine Zukunftsvisionen zu zeigen. Vor allem möchte ich mich bei den Jugendlichen bedanken, die mich bei meinen Workshops begleitet haben. Sie liessen mich an ihrem Alltag teilhaben und gaben mir dabei viele Lektionen fürs Leben, viel Glück, die Hoffnung auf sozialen Wandel sowie die Energie, diesen aktiv einzufordern. Consciente hat mich Teil der Bewegung werden lassen – und ich bin jetzt Teil von Consciente.
Danke, Familie.
Tipps für zukünftige Reisende:
- Bring genug Schokolade mit, so dass es auch für dich reicht.
- Stelle dich darauf ein, dass du von vielen Moskitos gebissen wirst.
- Iss viele Pupusas (Nationalgericht El Salvadors).
- Bade im Rio Helado („eisiger Fluss“).
- Erstelle eine Liste der Lieder, die sie dir empfehlen.
- Tanze eine ganze Nacht lang auf der Consciente-Terrasse.
- Sag immer „caval“, wenn du etwas magst.
- Übernachte im Freien und beobachte den Sonnenaufgang.
- Umarme einen Firulais (Name der streunenden Hunde).
- Befreie Schildkröten an der Playa der Cuco („Kuckucksstrand“).
- Sag „pacuso“, wenn etwas schrecklich riecht.
- Lerne die Geschichte des Massakers von Mozote.
- Lerne ein Wort in der Lenca-Sprache (Sprache einer indigenen Bevölkerung).
- Geniesse eine Mangoneada.
- Reise im offenen LKW.
Autorin: Tania Porto (aus der Schweiz), SCI Freiwillige bei Consciente El Salvador
SCI Freiwilligen-Einsätze bei Consciente
Die Zusammenarbeit mit dem Service Civil International (SCI Schweiz) ermöglicht es uns, Langzeitfreiwillige aus der ganzen Welt in El Salvador zu empfangen. Unsere internationalen Freiwilligen arbeiten bei bestehenden Projekten mit oder setzen eigene Ideen um und unterstützen so das lokale Team. Hast du Lust, wie Tania als Freiwillige nach El Salvador zu gehen? Mehr Informationen findest du hier: