Freiwilligeneinsatz in El Salvador mit 70
Claudia Rederer (70) war Schweizer Freiwillige in El Salvador von Oktober 2023 bis März 2024. In einem eindrücklichen Erfahrungsbericht erzählt sie, was sie in El Salvador während ihrem Einsatz erlebt hat.
Diese Zeilen schreibe ich am letzten Tag meines Einsatzes als Freiwillige bei der Fundación Consciente in El Salvador (Ende Oktober 2023 bis Anfang März 2024). Es ist also eine Momentaufnahme und würde wohl in einigen Wochen und Monaten schon wieder anders klingen. Sie ist geprägt vom Abschliessen, Rückblicken und Abschiednehmen nach fast 5 Monaten Mitwirken und Eintauchen hier in der Fundación, in Morazán und in El Salvador.
Bleiben wird – dessen bin ich mir sicher – dass es eine tiefgehende, wunderbare und sehr wichtige Erfahrung gewesen ist für mich und ich zutiefst dankbar bin dafür.
Ich wollte mir zum 70. Geburtstag einen langjährigen Traum erfüllen und einen Auslandseinsatz in einem sinnvollen Projekt machen. Nach dem Motto «Wenn nicht jetzt, wann dann…?».Mein Wunsch war, nochmals ganz in eine andere Kultur einzutauchen und möglichst viel Alltag zu erleben. Ausserdem wollte ich erfahren, wie es ist, in einer anderen Organisation zu arbeiten. Ich wollte Neues lernen und auch herausfinden, was ich mit meiner Art und Erfahrung beitragen kann. Ich kann’s schon vorwegnehmen: Diese Wünsche haben sich beim Einsatz bei Consciente voll und ganz erfüllt!
Am Anfang meiner Recherchen über Freiwilligenarbeit im Ausland war ich überwältigt von der Menge und sehr unterschiedlichen Qualität der Einsatzmöglichkeiten und fragte mich, wo ich wohl am besten landen würde. Im Kontakt mit SCI (Service Civil International) sprang dann der Funke sofort, als mir die Verantwortliche das «Projekt Consciente» ans und ins Herz legte. Das Projekt, seine offensichtliche Qualität und die Website gefielen mir sofort. Zuerst aber der Schreck: «Aber doch nicht nach El Salvador!…». Hohe Mordraten, Gefahr, Tropenklima, langer Flug, komplizierte Anreise – mehr wusste ich nicht darüber.
Gleichzeitig spürte ich, dass mich etwas zu diesem Projekt hinzog und ich beschloss, diese voreiligen Bilder und Annahmen besser abzuklären. Sie lösten sich dann im Laufe meiner Nachforschungen und des Kennenlernens genügend auf, so dass ich den “Gump” wagen wollte. Offen war noch die Frage nach meinen möglichen Einsatzgebieten als Psychologin/Psychotherapeutin. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, was ich als Nicht-Lehrerin in diesem Bildungsprogramm beitragen sollte. Ein Telefonat mit Chendo, dem Direktor vor Ort, zeigte mir dann auf, dass er spannende Einsatzmöglichkeiten für mich in allen drei Teilprogrammen von Consciente sah.
So nahm dieses Sabbatical Form an und ich spürte eine tiefe Freude, da ich dran war, diesen Lebenstraum zu verwirklichen. In mir waren nur noch Mut, Vorfreude und Klarheit sowie Respekt vor dem Unbekannten – aber keine Angst.
Gleichzeitig wusste ich aber auch: In meinem Alter und mit nicht ganz stabiler Gesundheit brauche ich genügend Anpassungs- und Übergangszeit, um diesen grossen Wechsel von Zeitzonen, Klima und Lebensweise zu bewältigen. So war mir klar, dass ich sowohl am Anfang als auch am Ende meines Halbjahres genügend Zeit einplanen wollte, um anzukommen, mich anzugewöhnen – und dann den Übergang am Schluss auch wieder sorgfältig machen zu können. Das ist gelungen: Mit drei Wochen Sprachaufenthalt am Anfang – und nun zum Schluss zwei Wochen des Seins und Reisens.
Ich bereitete die (rechtzeitig angekündigte) Pause in meiner psychotherapeutischen Praxis vor, machte die notwendigen medizinischen Abklärungen und Vorkehrungen und nahm Abschied von meinen Enkelkindern, erwachsenen Kindern, meinem Partner und meinen Freund:innen. Ende September stieg ich seit Langem wieder in ein Flugzeug und die lange innere und äussere Reise konnte beginnen.
In der dritten Oktoberwoche startete ich – nach drei Wochen an der Küste, wo ich mit einem Sprachlehrer in El Zonte mein Spanisch aufpeppte – dann die nächste Reise in eine nochmals andere Welt: nach Morazán und Gotera. Wohnen würde ich als erste Freiwillige privat, bei einer Arbeitskollegin von Consciente – auf meinen Wunsch und weil keine andere Möglichkeit zur Verfügung stand. Mein Wohnort Osicala ist ca. eine halbe Busstunde von Gotera entfernt und in den letzten Monaten zu meinem salvadorianischen Zuhause geworden.
Im Team von Consciente fühlte ich mich von Anfang an willkommen und getragen und erlebte viel Freundlichkeit. Ich war froh über die erste Woche, in der ich auf einige Besuche in Schulen und an Anlässe mitgehen konnte, denn nachher war das Schuljahr zu Ende. Die Offenheit und Freude im Team von Consciente, unsere Zusammenarbeit sowie ihr Engagement und ihr Mut in ihrer Arbeit sind der stärkste Eindruck meines Aufenthaltes – sozusagen das Kernstück.
Die Situation für eine Freiwillige ist sehr angenehm und lässt viel Handlungsspielraum zu. Sie erfordert gleichzeitig viel Selbstständigkeit und eigene Ideen, um die Zeit sinnvoll zu nutzen. Die Initiative, wie und wo ich tätig sein wollte und konnte, musste von mir kommen. Dieses gewisse «Vakuum» am Anfang war herausfordernd. Im Gespräch mit einigen der Kolleg:innen hier schälten sich dann nach und nach Einsatzmöglichkeiten heraus, die ich über die Monate zusammen mit ihnen entwickeln und umsetzen konnte.
Dazu gehörte unter anderem die Teilnahme an den Selektionsgesprächen und diversen Veranstaltungen für die Stipendiat:innen, die Mit-Organisation von zwei Teamtagen mit dem Thema «Salud Mental», die Organisation und Durchführung eines Frauentags unter dem Motto «Selbstfürsorge» sowie eines Ausbildungstags für die Junglehrer:innen im Programm Inovación Educativa zum Thema «Trauma y Escuela». Ebenso entwickelte ich eine Projektskizze zum Umgang mit Traumata im persönlichen und geschichtlichen Kontext als mögliches neues Angebot von Consciente. Es war überraschend und befriedigend festzustellen: Ich kann hier so ziemlich alles brauchen, was ich als ehemalige Projektleiterin und -entwicklerin bei HEKS, Psychologin, Traumatherapeutin und Frau gelernt habe.
Speziell freut mich zum Abschluss, dass ich mit allen drei Programmen von Consciente sowie der Fundación als Ganzes Aktivitäten entwickeln und durchführen konnte und mit fast allen Teammitgliedern eine Zusammenarbeit erlebt habe. Dabei haben wir, wie mir scheint, immer 1+1=3 gemacht: Wir haben einander zugehört und nachgefragt. So ergaben ihre Erfahrungen und Kenntnisse zusammen mit meinen etwas Drittes, Neues. Dies entwickelte sich zu gegenseitig bereichernden und anregenden „Produkten“. Auch konnte ich dadurch Einblick in fast den gesamten Tätigkeitsbereich von Consciente gewinnen.
Die Frage, was einen Freiwilligeneinsatz sinnvoll macht, begleitete mich vor und während meines Aufenthalts. Was ich genau beitragen konnte respektive was der Gewinn für die Organisation Consciente ist, haben mir meine Kolleg:innen hier in diesen Tagen des Abschieds und Rückmeldens auf sehr wertschätzende und liebevolle Art beantwortet. Sie haben meine Erfahrung, meine Aussensicht und meine Art als sehr bereichernd und hilfreich empfunden. Das freut mich natürlich sehr und bestärkt mich in meinem guten Gefühl über diesen Einsatz.
Sicher ist, dass ICH sehr viel gelernt und viele neue Einblicke gewonnen habe und tatsächlich ganz in diese so andere Welt eintauchen konnte.
Vieles verstand ich nicht oder erst nach einer Weile (auch sprachlich, der Oriente-Akzent hier kostete mich einiges…), täglich tauchten neue Gedanken und Fragen auf – aber hier und da auch ein Aha!
Mitnehmen darf ich nun einen ganzen Sack voll Freude und Erfüllung! Was davon bleibend ist, kann ich erst in einigen Wochen und Monaten sagen. Mit meinen Erfahrungen hier werde ich in die Schweiz zurückkehren und einen anderen Blick auf El Salvador vermitteln können.
Am wichtigsten sind viele kleine Begegnungen und Erlebnisse, welche den Alltag hier ausgemacht haben, sei es im Team von Consciente, in meiner Wohnsituation oder einfach auf der Strasse. Die haben mein Herz oft tief berührt und mich hier sehr glücklich, erfüllt und gesund sein lassen.
Dafür allen aus tiefem Herzen ganz grossen Dank!
Claudia Rederer, Schweiz, Freiwilligeneinsatz 23. Oktober 2023 bis 8. März 2024
Gotera, 8. März 2024