Menschen und Momente: Ein Freiwilligeneinsatz in El Salvador
Claudia Rederer (70) war Schweizer Freiwillige in El Salvador von Oktober 2023 bis März 2024. In einem eindrücklichen Bericht erzählt sie, von Menschen und Momenten während ihrem Einsatz.
In diesem Bericht möchte ich vor allem die Menschen ins Zentrum stellen, die meine Erfahrung so reich und dieses Land so schön machen. So vieles ist ziemlich übel hier und wäre kaum aushaltbar, wenn die Menschen nicht so herzlich wären, mir nicht dieses viele Lachen und diese innigen Umarmungen schenken würden und ich mich mit ihnen nicht so wohlfühlen könnte!
Menschen… da sehe und höre ich als erstes…
– die Tortilla-Verkäuferinnen, die vor allem am Morgen und am Abend ihre Stände am Strassenrand aufbauen und laufend frische Tortillas formen und backen. Die Geschwindigkeit, mit der sie die runden Dinger perfekt formen (in der Luft) ist atemberaubend. Und das Geräusch des Flachklopfens zwischen den Handballen. Das würde ich inzwischen überall erkennen und werd’s sehr vermissen.
Das gleiche gilt für…
– die Pupusa-Verkäuferinnen, die eine Art gefüllte Tortillas herstellen und immer frisch zubereiten. Ein Hochgenuss! Auch hier arbeitet ein Heer von Frauen (mindestens aber auf eigene Rechnung!) an der Grundversorgung im Land – denn ohne Maistortillas und Pupusas geht hier gar nichts. Ich habe meinen Bedarf inzwischen auch auf ca. 3 bis 4 Tortillas pro Tag erhöht und geniesse diese glutenfreie Verpflegung mit Vergnügen und bei weiterhin guter Gesundheit!
So wie ich bis jetzt nie einen Mann bei der Herstellung von Tortillas und Pupusas gesehen habe, begegnete mir auch nie eine Bus-Chauffeuse oder Geldeinzieherin. Diese Berufe sind fest in Männerhand:
– die Cobradores in den Bussen sind viel mehr als Geldeinzieher (Billette gibt es keine); sie helfen oft auch beim Ein- und Aussteigen, sind Gepäckträger, Auskunftspersonen, Transporteure von Waren (welche dann irgendwo einer Person am Strassenrand ausgehändigt werden), haben die verschiedenen Fahrpreise im Kopf und das Münz fürs Rückgeld in einem kleinen Säckli am Unterarm – sie können schnell rechnen.
Am Faszinierendsten ist für mich, wie sie die Chauffeure dirigieren; da gibt es ein ganzes System von Geräuschen, Pfiffen, Rufen und Bewegungen, die dem Chauffeur vorne signalisieren, was er machen muss: Aufs Blech klopfen heisst anhalten, Pfeifen heisst wieder losfahren, und diverse Ausrufe dirigieren den Bus durch den Verkehr. Auf der Strasse rufen sie laut das Ziel des Busses aus und versuchen möglichst viele Leute reinzubekommen, da die Chauffeure oft auf eigene Rechnung arbeiten. Im vollen Bus drin machen sie dann effizientes crowd management, sagen manchmal sehr resolut, wenn jemand noch ein paar Zentimeter vorrücken oder den Rucksack ausziehen soll, sind aber meist freundlich und haben oft auch viel Humor, wenn gar nichts mehr geht.
Sie sind also die eigentlichen Chefs im Bus, aber natürlich braucht es auch…
– die Bus-Chauffeure, welche die fröhlich-farbig bemalten Busse – meist alte “school buses” aus den USA – durch den Verkehr lenken und zum Teil über weite Strecken und abenteuerliche Strassen holpern. Sie sind oft die besten Auskunftspersonen, wenn es darum geht, Infos über Routen, Fahrzeiten, Fahrplan (oder zumindest ca.-Zeiten) zu bekommen. “Gschmuch” wird’s mir nur, wenn sie gleichzeitig am Telefon sind… aber all die Bibelsprüche an den Wänden helfen sicher….
Im Bus drin geht das Menschenkaleidoskop gerade weiter. Da sind…
– die alten Männer mit ihren schönen Hüten und oft ganz zerfurchten Gesichtern;
– die Frauen mit ihren langen Haaren, meist kunstvoll geflochten, am Morgen oft noch nass vom täglichen Waschen, alle sehr dunkle, dichte Haare – ein Blondschopf fällt sofort auf und ist allermeistens gefärbt;
– oder auch die vielen Frauen mit den weissen Spitzenschleiern auf dem Kopf, die damit ihre Zugehörigkeit zu evangelikalen Kirchen ausdrücken;
– die vielen verschiedenen Gesichter, die von indigener und spanischer Abstammung sprechen;
– die Mittelschüler:innen, die beige Röcke oder Hosen tragen, mit weisser Bluse oder Hemd, die Frauen weisse Strumpfhosen zum Rock;
– die Uni-Student:innen, die schon etwas häufiger eigene Kleider anziehen dürfen und am liebsten völlig zerlöcherte Jeans und Glitzer-T-Shirts tragen. Viele davon sind mit Stipendien an der Uni oder einer Art Fachhochschule und können sich nur so den Traum vom Studium erfüllen.
Und ALLE sind permanent und non-stop am Telefon, oft mit lautstarken Videos oder Telefonaten.
Durch die Menge drängen sich…
– die Verkäuferinnen von Süssigkeiten, Esswaren, Tamales, Getränken oder wer auch immer gerade aussteigen muss.
– die Anpreiser:innen von Medikamenten, Telefonzubehör, Taschenlampen, zum Teil mit guten Marketing-Strategien und alles natürlich mit Spezialangeboten. Ich staune immer wieder, dass die Leute kaufen. Habe aber auch schon eine wiederaufladbare Taschenlampe gekauft (wie praktisch alles hier „Made in China“) und sie funktioniert tipptopp. 😉
Tief eindrücklich ist für mich hier, wie die meisten dieser Menschen unermüdlich versuchen, in diesem informellen Wirtschaftssektor über die Runden zu kommen – und jeder Centavo zählt dabei. Umso katastrophaler, dass der Staat nun auch von ihnen Steuern einziehen will.
Auch auf dem Markt in Osicala (meinem Wohnort) heute habe ich die Menschen nochmals von Herzen genossen:
– die alte Bananenverkäuferin Mercedes vom Berg oben, die auch feine Trinkschokolade herstellt und Kaffee verkauft;
– der Gemüsemann Levi, auch vom Berg oben, mit seinen lokalen Produkten;
– das Käseverkäufer-Paar aus Gotera. Der Käse ist erstaunlich teuer (ein Pfund kostet 6 Dollar), hat verschiedene Reifegrade, alle weiss. Der mit Chili ist unser Lieblingskäse.
Wir haben uns alle umarmt und etwas geweint, als ich sagen musste und wollte, dass ich sie wahrscheinlich nicht mehr sehen würde, da heute mein letzter Sonntagsmarkt sei…. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wo ich herkomme oder hingehe. Am ehesten können sie noch die USA orten, da zwei Millionen Salvadorianer:innen dort wohnen (und ca. 6.5 Millionen im Land hier, Grösse etwa wie die Schweiz). «Suiza» ist einfach extrem weit weg und sicher ist es dort immer eiskalt (“helado”)… Dass wir keine Tortillas haben und auch sonst anders essen wie sie, versetzt sie noch am ehesten ins Staunen.
– Der zahnlose alte Casimiro war heute nicht auf dem Markt, wegen „einem bösen Bein“ und den Wahlen, aber ich habe nachher den Bus zu ihm genommen, um meine Hängematte von ihm abzuholen. Ein Prachtsstück! Ich hoffe, dass ich darin immer wieder die Ruhe und Leichtigkeit finden werde, die ich hier oft habe. Sie wird einen grossen Platz im Koffer einnehmen.
Da sind auch noch…
– die Atolverkäuferin Emma, die wie viele ältere Frauen hier Format, Sicherheit und Stärke ausstrahlt und recht bestimmt ist (Kriegsgeneration?). Atol ist eine Art heisses Maizenagetränk mit verschiedenen Aromen und war oft ein halbes Nachtessen, wenn ich müde vom Bus kam. Inzwischen ist es mir zu heiss dafür, aber ich werde Atol, Emma und ihren veritablen Dorftreffpunkt am Park sehr vermissen;
– die Verkäuferin an der Kasse im „Super“, dem Supermarkt, die schnell wusste, dass ich keine Plastiksäcke wollte und andere entsprechend instruierte – leider hat mein Beispiel aber glaube ich niemanden angesteckt…;
– all die Menschen, denen mich meine Wohnpartnerin und Arbeitskollegin Aracely vorgestellt hat, die meisten irgendwie mit ihr verwandt oder befreundet und entsprechend ständig auf dem Laufenden was ich hier alles so mache, wo ich hingereist bin, was ich esse, etc. 😉
Viele kennen mich hier, ohne dass ich sie auch näher kenne. Der Kübelmann im Park fragte mich vorgestern, wo ich jeden Morgen auch so früh hingehe – und hat dann wie alle sehr freudig reagiert, als ich sagte, ich ginge auf den Bus nach Gotera, an meine Arbeit als voluntaria bei „Consciente“.
Ich falle als „La Gringa“ auf, denn ich sehe anders aus, bin anders angezogen – und ihre Welt ist klein. Immer aber kommen die Beobachtungen und Fragen mit Wohlwollen, Herzlichkeit und angenehmer Neugierde und sind drum nie lästig, einfach oft überraschend für mich.
Das bringt mich zu…
– den Teammitgliedern in der Fundación Consciente. Mit allen ca. 25 habe ich irgendeinen Kontakt, eine nähere oder distanziertere Arbeitsbeziehung, mit vielen direkte und sehr gute Zusammenarbeit erfahren, mit wenigen etwas privatere Gespräche oder Zusammensein erlebt, so etwa im wunderschönen Camping-Ausflug auf einen Vulkan und ans Meer.
Sie sind alle sehr freundlich, umarmen mich oft, bleiben aber für mich eine manchmal etwas verwirrliche Mischung aus Nähe und Distanz in ihrem Umgang miteinander und mit mir.
Speziell freut mich zum Abschluss, dass ich mit allen drei Programmen sowie der Fundación als Ganzer Aktivitäten entwickeln und durchführen konnte und damit auch mit fast allen Teammitgliedern eine Zusammenarbeit erlebt habe. Auch habe ich so Einblick in fast den gesamten Tätigkeitsbereich von Consciente gewonnen.
Der grosse Altersunterschied zu mir als über 70-Jährigen war nie ein Thema oder schwierig, zumindest nicht ausgesprochen, und ich habe mich von Anfang an sehr wohl gefühlt. Ich spüre von allen so viel Wohlwollen und Freude über mein Hiersein und Mitarbeiten, und der Abschied fällt uns schwer.
… und zum Schluss zu meinem zentralsten Kreis hier:
– Aracely, meine 25-jährige Wohnpartnerin und Arbeitskollegin und ihr Sohn Cris. Wir haben uns in den fast fünf Monaten gut zusammengerauft, finde ich, alle eine grosse Anpassungsleistung vollbracht und viel voneinander gelernt. Geholfen hat, dass wir uns alle gern bekommen haben!
Es ist eine Herausforderung gewesen, in diesem oft sehr unruhigen System zu leben, aber es hat sich gelohnt, dies zu wagen und beizubehalten, finde ich. Auch hier wird der Abschied heftig sein, für alle.
Es gibt noch viele kleine und grössere Begegnungen, auch unterwegs, die für mich dieses Land und meine Zeit hier ausmachen. Es sind immer die Menschen und die Begegnungen, die am meisten zählen.
Und das gleiche gilt sicher auch fürs Heimkommen. Es werden all die Wiederbegegnungen mit Familie und Freund:innen sein, die zählen und mir den Übergang in die wieder so andere Welt erleichtern werden!
Alles ist in Bewegung, in mir, in den Prozessen, in der Wahrnehmung. Immer spannend, meist erfrischend, hier und da ermüdend und sehr, sehr reich, alles gleichzeitig!
Ich kann oft immer noch nicht glauben, dass ich dies alles erleben darf und bin einfach immer wieder zutiefst dankbar für dieses Geschenk an mich selbst. Denn DAS, das ist viel einfacher zu beschreiben: Diese Erfahrung ist ein Riesengewinn für mich selbst. Obwohl ich inzwischen klarer sehe, was ich beitrage, empfinde es oft immer noch so, dass ich mehr bekomme als gebe.
Claudia Rederer, Schweiz, Freiwilligeneinsatz 23. Oktober 2023 bis 8. März 2024
Gotera, 8. März 2024